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Run im Höschen

1957, im zarten Alter von 14 Monaten, wo mir bereits klar war, ich werde Kabarettist, beschloss ich, ein Sabbat-Jahr einzulegen, um das wahre Wesen des Menschen zu entdecken und möglichst schnell all die Zusammenhänge der Weltgesellschaft final zu begreifen.

Mein Plan war, zu Fuß über Jugoslawien und Türkei die Sinai-Halbinsel zu erforschen, dann weiter quer durch die Sahara Richtung Namibia, wo ich in der Walfischbucht einen Freund vermutete, der mich mit Nahrung und Equipment ausstattet. Weiter wollte ich dann merklich gestärkt den schwierigen Seeweg um das Kap der guten Hoffnung herum als Erster auf einem SUP riskieren, um dann über Südamerika, Grönland und Mongolei mit Zwischenstopp am Mount Everest wieder zurückzukehren...
Aber wie das mit Plänen so ist: ich kam über den heimischen Garten in Wolkersdorf nicht hinaus.

Tanzkurs

Ich mit meiner Tanzpartnerin 1972 am Tage des Abschlussballs der Tanzschule Merlin, Nürnberg.
Wir waren nicht füreinander geschaffen. 
Es war zu Kursbeginn nur sonst niemand mehr übrig.
Wir kamen beide zu spät, die Verteilung und Sortierung nach hauptsächlich optischen Kriterien war erledigt, wir waren der Überhang, demnach ein Tanzpaar. Und das für lange Zeit. Die beidseitige Begeisterung auf dem Foto unterstreicht die Situation eindrücklich. 
Über viele Wochen mühte ich mich ab und erkannte nie den Sinn hinter all dem Standard-Getrampel. War es doch so, dass wir Beide so gar nichts füreinander hegten.


Meine Liebe galt einer anderen, deretwegen ich den Kurs überhaupt belegte. Ich wollte sie dareinst mit tänzelnder Finesse überraschen. Nie kam es dazu. Da sie im Schweinfurter Raum hauste, sahen wir uns nur selten. Schrieben uns jedoch täglich.
Ich hab sie noch alle, die ihrigen Briefe. Sie muten an wie ein süß-schmerzlicher Anachronismus, wie eine vernebelte Erinnerung an Tage ohne WhatsApp und Email...
Doch die reich verzierten Briefe verhießen auch stets mehr, als die Realität zuließ. Da entstand zunehmend ein Vakuum, welches die Tanzpartnerin natürlich nicht aufwiegen konnte. Und ich fürchte, ich ließ sie das spüren.


In holzhaft-störrischer Statik beim Fox, in matschigem Walzer-Geschlurfe...
es war eine Abstimmung mit den Füßen, die allzu oft schmerzhaft 
ihre Knöchel und Schienbeine traktierten...

Und ich schäme mich, wenn ich jetzt dieses Foto sehe. Und ich würde so gerne Abbite leisten.
Und sachdienliche Hinweise, die zur Feststellung der abgebildeten weiblichen Person führen, nehme ich gerne entgegen, da es mir nach 48 Jahren die Möglichkeit böte, mich bei der mit Sicherheit lebenslang traumatisierten Dame aufs heftigste zu entschuldigen.

VW

Es war im Jahre 1957. Als Hochbegabtenkind war ich damals bereits im Alter von 15 Monaten zur Abschlussprüfung als KfZ-Meister zugelassen.
Wenngleich mein Berufsziel eigentlich Verhaltenstherapeut mit Fachrichtung "Irrationale Übersprungshandlungen bei thermobedingter Traumata" war, ließ ich mich auf Drängen und Bitten verschiedener Werkstätten auf die Prüfung ein. 
Zunächst lief alles hervorragend. Der Reifenwechsel an einem 86-Tonner-Braunkohlebagger während der Fahrt brachte mir akkurate Bonuspunkte.
Auch mit dem Tuning eines Olympia Rekord P1, den ich so kunstvoll tiefer legte, dass zuletzt die Räder nicht mehr den Boden berührten, erntete ich spontanen Applaus. 
Die Schlußarbeiten an einem VW Käfer (siehe Bild) erschienen mir da nur noch als lächerliches Pillepalle.

Doch das Foto dokumentiert eindrucksvoll den Moment meines Scheiterns, denn ich verwechselte tatsächlich den Austauschmotor mit der Stoßstange!
Ein jämmerlicher Flüchtigkeitsfehler! Wie oft hatte ich mir vor der Prüfung die signifikanten Unterschiede eingeprägt, um gerade dies zu verhindern. Vergebens.
Ich baute die Stoßstange da ein, wo eigentlich ein rumorender Motor für Antrieb sorgen sollte... und ich fiel kläglich durch die Prüfung. 
Bruder Leichtsinn und Schwester Hochmut gaben sich neben Schwager Blödheit in diesem Moment die Hand und vereitelten souverän die Meisterschaft.
Ich zog daraus die Lehre, die Lehre abzubrechen, um keine Leere entstehen zu lassen und widmete mich notgedrungen erst mal meiner Kindheit.

Das Schiff

Schon damals Anfang der 60er waren Menschen, und speziell Kinder, anfällig für Theorien, die nicht so ganz hundertprozentig dem Mainstream entsprachen.
Der links stehende Junge mit dem höhnischen Lachen ist Josef Giebstall. Er zog das Boot mit Hilfe seines Dreirads (im Bild links) aus Großvaters Garage. Da stand es nun wie selbstverständlich auf dem leicht abschüssigen Pflaster in der Blumenstraße in Gunzenhausen.
Die Anwohner gewöhnten sich schnell an den Anblick und murmelten nur "Das wird schon seinen Sinn haben".
Der Giebstall war uns allen ein wenig unheimlich, was die Faszination an seiner Person nur vorantrieb. Mancher behauptete, Giebstall sei nur sein misteriöser Tarnname und in Wahrheit ein Anagramm aus dem Reich finsterer Mächte.

Giebstall behauptete jedenfalls, die Chinesen stärkten ihr Immunsystem, indem sie mit Leidenschaft Fledermaus-Sushi essen, welches vorher eine Woche in einem kaputten Kühlschrank bei exakt 28 Grad Raumtemperatur gelagert wird.
Und, so hüstelte er uns Kindern ins Ohr, dies alles sei nur der Anfang. Er wissen nämlich, dass demnächst die Flut kommt. Und es werden die Passagiere hier im Boot fast die einzigen Überlebenden sein, denn die Menschheit wird reduziert auf die Einwohnerzahl von Fürth... das Wasser wird unvermittelt über alle Hausdächer steigen, die Welt überschwemmen und selbst noch den Mond verschlingen.
Doch das Boot wird uns tragen, und außer Sichtweite wird es sich verwandeln in eine türkisfarbene mehrstöckige Plasmaschüssel mit allem Pipapo: Bällebad, Hüpfburg, Klettergarten und Flatrate-Softeis.
Und wegen eines Streichelszoos stehe er in engem Kontakt zur WHO. Aber nicht weitersagen, raunte Giebstall noch zum Abschluß, sonst ist schnell das Boot voll, zu voll. 
An einem verregneten Samstag-Nachmittag rannte ich in die Blumenstraße. Das Boot war weg und ich hab die Abfahrt verpasst.
 Josef hatte also recht. Josef Giebstall... Verzeihung, Bill Gates.

Telefon

Es ist ein dokumentierter Glücksmoment aus dem Jahre 1960.
5 Wochen waren wir quasi von der Außenwelt abgeschnitten, bis die Telekom endlich doch noch ihren montierten Rooter zum Laufen brachte und ich dank dem Auslands-Flatrate-Tarif "Call all" in alle Netze auf dem Schoß meiner Mutter sitzend mein erstes Telefonat mit einem russischen Oligarchen führen konnte, den ich per zufälliger Wählscheibenführung urplötzlich in der Leitung hatte. Der Spaß war groß, wenngleich die Überforderung des Dolmetschers auf der anderen Seite der Leitung fast körperlich spürbar war. Letztendlich jedenfalls besaßen meine Eltern ab da spottbillige Anteile an der Gazprom-Gesellschaft, die dann viele Jahrzehnte später an Schröder verkauft wurden. Was nicht heißt, dass mich mit Gerhard Schröder eine Freundschaft verbindet...

Lilienthal

Früh schon im Leben haderte ich sehr ob des Unwissens anderer.
Schier zur Verzweiflung trieb mich da mit knapp 5 Jahren zum Beispiel, dass weder meine ignoranten Eltern noch sonstwer in meinem näheren Umfeld wussten, dass sich exakt am 10. August 1960 der Todestag von Otto Lilienthal zum 64ten Mal jährt.
Lilienthal, der in selbstmörderischer Art letztlich Wegbereiter für TUI und Mallorca und All You Can Eat war... er schien damals schon vergessen im Strom der Zeit und kaltherziger Strategen. Ich konnte das so nicht stehen lassen und lud via Flugblatt ein zum Lilienthal-Revivel nebst Flugshow im heimischen Garten, 10. August 1960, 15.30 Uhr. Und alle kamen!
Alle, das waren meine Eltern, also meine Mutter (mein Vater ließ sich entschuldigen), nebst zufälligen Zaungästen, bestehend aus dem Briefträger.
Zur großen Überraschung aller Anwesenden und noch größerer meiner selbst hob ich wenige Sekunden vor Ende der improvisierten Startbahn (Rückwand der Garage) tatsächlich ab (leider kein Foto). Keine Ahnung, wie mir dies gelang. Vielleicht war es eine zufällig perfekte Anwinklung der Oberarme im Zusammenspiel mit leichtem Schuhwerk (Romika), Windhose und Seitenruder (sprich Hände) und parallel dazu thermischen Glücksfällen, wie sie nur ein mal alle 6800 Jahre einem 4-jährigen Menschen beschert werden, wer weiß.

Fakt war: ich flog erst über das Grundstück, dann weiter ein große Runde über Schwabach und Roth, erblickte unter mir Fürth, Erlangen und Forchheim, stieg in launiger Lust höher, sah das Maintal vor mir liegen, die Rhön, den Rhein, die Elbe, Europa und den Atlantik... ich stieg immer höher, bis Eiskristalle an meinen Füßen kitzelten und ich die Kugel der Welt als Weltkugel wahrnahm und mir kindlich klar wurde, alles hängt letztlich mit allem zusammen... und ich in weiser Mission dann auch alles Gesehene und Gedachte nach der Landung allen erzählen wollte... und ich mir dann dachte, dann musst du erst mal Kabarettist werden, und mir dann in den Sinn kam, wenn du so klugscheißerisch daher kommst und den Leuten erzählst, wie es aus deiner Sicht ausschaut, das mag dann für dich vielleicht stimmen, aber andere haben halt ihren eigenen anderen Zugang zum Leben... da wurde es mir im zarten Alter von 4 Jahren dann doch etwas zu kompliziert, und ich beschloss, erst einfach mal was zu essen und anschließend in aller Ruhe älter zu werden.

Kindergarten

Es gibt so Momente, die brennen sich ins Leben ein, gleich einer höllisch glühenden Kuchengabel, die sich mit zischendem Qualm in ihrer ganzen zerstörerischen Kraft wuchtvoll in dein Osterbrot hinein schraubt, für das du extra einen fernab gelegenen Bäckersmann aufsuchtest, durch Wind und Wetter bist du durch schluchtige Wildnis auf eine unwirtliche Hochebene gekrochen, um den Großbäckereien zu entkommen und um des Brotes wegen ihn zu finden, den Wunderkneter und Hefefachmann, einen teigigen Magier erster Güte, der da ein Osterbrot zauberte, wie es nur noch äußerst versteckte und extrem weit abgelegene Bäckersmänner zustande bringen, ein Osterzauberwunderbrot von solch betörend gütigem Duft, dass einem der Verzehr vorkommt wie sündiger Frevel, wie Betrug an der Schönheit und Schändung des Urhebers... und man will es dann tatsächlich nur betrachten und den Odem der Ingridenzien olfaktorisch in all seinen molekularen Strukturen genießen - statt dessen jetzt eben ein wütender gabelesker flammender Dämon, der das Wunderwerk in seiner Gänze brutalst vernichtet. Ja, solche Momente gibt es und die plastische Darlegung sei mir hiermit gestattet, so bitt ich zumindest.
Jedenfalls, und damit zurück zur Sache:


Beim Anblick des vorliegenden Fotos hatte ich sofort das subjektive Gefühl, es wären gerade mal 59 Jahren her gewesen. Dabei reicht der Vorgang objektiv tatsächlich zurück ins Jahr 1961!

Zu sehen ist die Kreisdelegiertenkonferenz der Gewerkschaftsjugend. Ich bin der zweite von rechts.
Soeben bin ich bei der Wahl des Schriftführers glatt durchgefallen, mit der fadenscheinigen Begründung, ich könne schließlich noch gar nicht schreiben.
Typisch Gewerkschaft damals schon: an Fakten festhalten, und dabei die Wahrhaftigkeit des Individuums in Frage stellen, und bei allem wie immer Null Humor.
Zur Frustration meinerseits trug zusätzlich bei, dass die geschäftsführende Sekretärin zu meiner Linken (also ich war ebenso links, saß aber rechts) auf mein Angebot eines gemeinsamen Brezelessens mit anschließendem "mal schauen, was sich sonst noch so entwickelt" spürbar ablehnend reagierte. Mit anderen Worten:
Es gibt so Momente, die brennen sich ins Leben ein, gleich einer höllisch glühenden Kuchengabel, ... aber das hatten wir ja schon.

Büffel

Ich während meiner praktischen Führerschein-Abschlussprüfung 1964. Fahrprüfer wie auch der Fahrlehrer sind verdeckt im Bild, unterhalb des Gefährts und deshalb nur schwer erkennbar. Ich sitze in einem Büffel TX 27. Der Kenner weiß sofort, der TX 27 hatte damals noch im Basispaket Maschinengewehr und frontseitigen Rammdotzer. Der "Meine" war mit dem Travel-Fun-Paket ausgerüstet (Panzerfaust, Kettenschaltung, 360-Grad-Cabrio-Fun und linksbündiges Trommelgewebe in Schiefer-Optik).
Aus ökologischen Gründen wurde ab dem 28er-Modell (1981) die Panzerfaust und das Maschinengewehr durch Anhängekupplung samt Pflugschar ersetzt. Heute ist kaum noch vorstellbar, dass der damalige Büffel TX 27 tatsächlich Vorlage und Wegbereiter des heutigen Audi A8 war.
Das Foto jedenfalls zeigt mich auf der Fürther Straße (im Hintergrund das Quelle-Areal, erkannbar an den gestapelten Katalogen), damals noch unbefestigt, mit sehr geringer Verkehrsdichte, da unbefestigt und nur schwer zugänglich.
Ich befinde mich gerade in einem Überholvorgang, was mein angespanntes Gesicht erklärt. Der Überholvorgang galt einer Gruppe rumänischer Erntehelfer, die verbotswidrig die linke Ackerspur belästigten. Beim übereilten Ausweichen vergaß ich das Blinken (nicht im Bild), rammte einen Lichtschutzmast und kam erst bei Einbruch der Dunkelheit in einer griechischen Taverne zum Stehen.
Will sagen: auch damals war nicht alles leicht bestellt...

KünstlerAgentur Imke Nagel
Korsörer Str. 11 · 10437 Berlin